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S-Bahnhof Hermannstraße

21.08.2018

Das halten Berliner vom Nervmusik-Pilotprojekt
Der Neuköllner Kiez ist ein hartes Pflaster: Junkies, Trinker, aber auch Drogen-Dealer und andere Kriminelle bevölkern die Plätze. Der Bahnhof Hermannstraße ist Dauergast im Polizeibericht. Die S-Bahn will die problematische Bahnhofsklientel jetzt mit atonaler Musik dauerbeschallen – und vertreiben. Denn atonale Stücke werden von vielen Leuten als Aneinanderreihung nerviger, verstörender Klänge wahrgenommen. Sie können angeblich Angst und Unbehagen wecken und werden deshalb auch in Horror-Filmen benutzt. Das Problem: Normale Fahrgäste werden die Gruselklänge ebenfalls am Bahnhof hören.

Die S-Bahn Berlin gibt zu, dass der Pilotversuch gewagt ist. Die Musik dürfe keine Fahrgäste aus dem wichtigen Umsteigebahnhof vertreiben. Unmittelbar auf den Bahnsteigen soll sie deshalb nicht erklingen, betont Friedemann Keßler, Regionalleiter Ost bei „DB Station & Service“. Welche Komposition atonaler Musik ab September in Dauerschleife im Bahnhof Hermannstraße laufen soll, steht noch nicht fest. Auch die am besten geeignete Lautstärke müsse noch ermittelt werden.

Dass ausgerechnet dieser Bahnhof für das Experiment ausgewählt wird, hat seinen Grund: Bei der Polizei zählt die Station als besonders kriminalitätsbelasteter Ort – selbst für Neuköllner Verhältnisse. Laut Statistik werden dort jährlich etwa 3000 Straftaten begangen. Raubtaten, Körperverletzungen: Bundesweit geriet der Bahnhof in die Schlagzeilen, als 2016 der Bulgare Svetoslav S. einer Passantin brutal in den Rücken trat, diese daraufhin die Bahnhofstreppen herunter stürzte. Zwar glaubt die Bahn nicht, alle Probleme mit atonaler Musik lösen zu können, wie sie etwa von Arnold Schönberg und Alban Berg komponiert wurde. Aber die etablierte Drogen- und Trinker-Szene loszuwerden: Das erhofft man sich von der Schall-Attacke schon.

Ganz neu ist der Plan nicht, unliebsame Klientel mit Musik zu vertreiben. Vor acht Jahren versuchte die BVG bereits, Drogenhändler mit einer Dauerberieselung vom U-Bahnhof Adenauerplatz (Linie U7) fernzuhalten. Der Unterschied zu heute: Die BVG verwendete herkömmliche klassische Musik, die auch noch leise eingestellt war, um die Händler im Bahnhof nicht zu nerven. Der Testlauf wurde rasch wieder beendet. Es gab auch Proteste gegen die Zwangsbedröhnung.

Am Hauptbahnhof in Hamburg dudelt dagegen schon seit Jahren deutlich hörbar klassische Musik. Vivaldi, Mozart und Tschaikowski erwiesen sich dort als geeignete Mittel, um Drogen-Dealer und Junkies loszuwerden. Mögen solche Menschen etwa keine Klassik? Nein, daher kommt der Effekt nicht. Schon zur Einführung im Jahr 2000 erklärte der Potsdamer Musikpädagoge Dr. Michael Büttner im „Spiegel“, dass es einen Unterschied zwischen freiwillig und unfreiwillig gehörter Musik gibt. Erzwungene Beschallung, die auch noch lange andauert, nervt furchtbar.

Ein besonderer Förderer der Beschallung war der berüchtigte Ronald Schill, von 2001 bis 2003 Innensenator Hamburgs. Der Gründer der Partei Rechtsstaatlicher Offensive hatte damals den Bahnhof-Dealern persönlich den Kampf angesagt. Händlern, die bei Razzien ihre Drogen-Päckchen schlucken, wollte er am liebsten Brechmittel zwangsverabreichen.

Auch in Leipzig werden Passanten am Eingang des Hauptbahnhofs mit Klassik berieselt, allerdings erst seit Mai 2017. Offiziell aber nur mit dem Ziel, das „Ambiente der Musikstadt Leipzig unterstützen“. Ohnehin führt der Musik-Einsatz offenbar nicht zur nachhaltigen Verschreckung des Trinker-Milieus. Vielmehr verlagert sich die Szene laut Stadträtin Juliane Nagel (Linke) nur zum nahe gelegenen Kleinen Willy-Brandt-Platz. Nagel sieht in der Beschallung keine probate Hilfe – „weder für die, die Interesse an Ruhe und Ordnung haben, noch für die, die ihre Wohnung aus sozialen Gründen in den öffentlichen Raum verlagern“.

Der Berliner Fahrgastverband Igeb beurteilt solche Vergraul-Vorhaben ebenfalls skeptisch, aber aus etwas anderen Gründen. Igeb-Sprecher Jens Wieseke sagt: „Gerade in einer Stadt, die an vielen Stellen laut ist, sollte genau überlegt werden, ob noch eine zusätzliche Lärmquelle geschaffen wird.“

Ist die Schall-Attacke aber trotz der Bedenken erfolgreich, könnte die schräge Musik bald auch an 17 anderen Problem-Bahnhöfen erklingen. Diese Stationen, zu denen auch der Alex, die Frankfurter Allee und der Bahnhof Charlottenburg gehören, sollen für insgesamt 5,3 Millionen Euro aufgewertet werden – durch groß angelegte Verschönerungen und Reinigungen der Vorhallen. Für den Alex ist etwa eine bunte Außenbeleuchtung geplant.

Autor/Agentur: Mike Wilms
Quelle: Berliner Kurier
Medium: Tageszeitung
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