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Straßenbahnunfall: "Dramatische Fehler von BVG und Fahrerin"

10.01.2004

Polizei sucht nach Zeugen für das Unglück in Friedrichshain
Nach dem furchtbaren Straßenbahnunglück in Friedrichshain (wir berichteten) wächst die Kritik an der BVG. Matthias Horth vom Fahrgastverband Igeb sprach von einem "dramatischen Fehlverhalten von Fahrerin und Leitstelle". Wenn ein Zeuge glaubwürdig auf einen Unfall hinweise, dürfe die Fahrerin nicht weiterfahren. Zumindest hätte aber die Leitstelle angesichts der schlechten Sicht- und Witterungsverhältnisse unbedingt die Betriebsaufsicht zum Unfallort entsenden müssen, kritisierte Horth. Bei dem Unglück am Mittwochabend waren binnen zwei Stunden 24 Straßenbahnen am Unglücksort Kopernikusstraße über die Leiche von Bernhard D. (54) hinweggefahren, ohne dass auch nur ein einziger Fahrer etwas bemerkt haben will.

Warum Bernhard D. zwischen die Wagen der Straßenbahn geraten ist, konnte die Polizei bisher nicht klären. Eine Obduktion soll Aufschluss darüber geben, ob er Alkohol getrunken hatte. Die Polizei ermittelt auch, ob es sich um einen Freitod handeln könnte. Deshalb sollen nun Angehörige und Freunde vernommen werden.

"Die Spurensuche an der sichergestellten Straßenbahn hat ergeben, dass der Mann von ihr überfahren und sofort getötet wurde", teilte Ronald Reinke vom Verkehrsunfalldienst der Direktion 6 mit. Der Körper sei mitgeschleift worden und habe dann im Gleisbett gelegen. Andere Bahnen seien darüber hinweggefahren, hätten ihn aber nicht mehr berührt, so Reinke.

Reinke hofft nun, dass sich weitere Insassen der Unfallbahn unter Tel.: 46 64-266 44 melden, um den Bericht des bisher einzigen Zeugen zu bestätigen. Der 44-Jährige hatte hinten in der Bahn gesessen und will "Halt, halt, nicht anfahren!" gerufen haben. Die Fahrerin habe dies falsch verstanden und geantwortet, er könne jetzt nicht mehr aussteigen. Dann fuhr sie los. "Als der Zeuge nach vorn gelaufen war und erklärt hatte, was passiert war, waren bereits die 50 Sekunden vergangen, die die Bahn bis zur nächsten Haltestelle brauchte", sagte Reinke. Die Blutspuren habe die Fahrerin bei der Kontrolle des Zuges nicht sehen können.

BVG-Sprecher Wolfgang Göbel wies Vorwürfe zurück und warnte vor Vorverurteilungen. Alle Beteiligten seien gut beraten, erst einmal das endgültige Ermittlungsergebnis abzuwarten. Dass keiner der beteiligten Straßenbahnfahrer, die von der Leitstelle auf einen möglichen Unfall aufmerksam gemacht und angewiesen worden waren, auf einen Verletzten zu achten, etwas gesehen haben will, ist laut Göbel "unglücklich gelaufen" und werde bei der BVG ein Nachspiel haben.

Die 43-jährige Fahrerin der Unfallbahn steht unter Schock und konnte nach Göbels Angaben bis zum späten Freitagnachmittag nicht von der Polizei vernommen werden. Göbel widersprach der Polizei. Es sei bislang "völlig unklar", ob die Tram noch stand, als der Zeuge die Fahrerin warnte und ob die Fahrerin die Rufe einwandfrei hören konnte. "Die Tür zur Fahrerkabine war geschlossen, die Tram gut besetzt. Es ist also offen, ob die Fahrerin die Rufe als Warnschreie wahrgenommen hat", sagte Göbel. Zudem habe der Zeuge rund 30 Meter entfernt gesessen.

Ungeklärt ist auch die Frage, warum der Zeuge nicht die Notbremse gezogen hat. Dass es an den betroffenen Niederflur-Wagen Probleme mit den Scheinwerfern oder mit nicht entspiegelten Scheiben geben soll, ist im BVG-Gesamtpersonalrat nicht bekannt. "All unsere Fahrzeuge werden durch die technische Aufsichtsbehörde überprüft", sagt der für den Straßenbahn-Bereich zuständige Vorstand Hans-Joachim Hasenbank. Falls es Sicherheitsprobleme gebe, wären die betroffenen Trams kaum für den Betrieb freigegeben worden, so der Personalrat. IGEB-Vorstand Horth bestätigt die Angaben. "Es sind uns keine derartigen Probleme bekannt." Zudem würden vergleichbare Trams ohne Probleme seit Jahren in Städten wie München oder Bremen eingesetzt.

Technikexperten verweisen darauf, dass die tief liegenden Niederflurwagen bei einer Kontrolle von den Fahrern kaum von unten einsehbar sind. Zudem seien die Wagenführer nicht einmal mit einer Handlampe ausgestattet. "Und wenn jemand unter den zweiten Wagen gerät, bekommt das der Fahrer gar nicht mit, bei all dem Gerumpel", heißt es. Durch das gewaltige Gewicht einer Straßenbahn könne ein Opfer dermaßen zerstückelt werden, dass nachfolgenden Tramführern der schreckliche Unfall durchaus entgangen sein könnte, zumal bei Schneematsch und Dunkelheit. Hinzu komme, dass die Gleise am Unfallort neben einer Straße verlaufen, von der zurzeit immer Split und auch Matsch herüberfliegen.

Autor/Agentur: G. Doelfs, R. Finke und G. Hartmann
Quelle: Die Welt
Medium: Tageszeitung
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