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Hauptstadt im Ausnahmezustand

09.03.2008

Nach dem Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben wollen ab morgen auch die S-Bahner streiken. Die S-Bahn Berlin GmbH hat sich auf den Streik mit einem Notfahrplan vorbereitet. Fahrgäste müssen dennoch mit erheblichen Beeinträchtigungen rechnen. Viele Service-Hotlines waren schon am Samstag überlastet
Berlin steht vor dem größten Arbeitskampf im öffentlichen Nahverkehr seit Jahrzehnten. Von Montag an wollen die Gewerkschaften gleichzeitig die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und die Deutsche Bahn bestreiken. Die Bahn kann deshalb nur einen stark reduzierten Zugverkehr anbieten. Wie in den vergangenen Tagen werden zudem auch alle Busse und Bahnen der BVG in den Depots bleiben. Die BVG will den Notverkehr mit privaten Fuhrunternehmen fortsetzen. Sie will die Zahl der eingesetzten Busse von 100 auf 120 erhöhen. Helfen wird dies kaum.

Mit dem zusätzlichen Streik der S-Bahn-Lokführer müssen die Berliner nach U-Bahn, Bus und Straßenbahn nun auch auf die S-Bahn verzichten. Bis zu 500 000 Fahrgäste waren in den vergangenen Tagen wegen des BVG-Streiks auf die Züge der Bahn-Tochter ausgewichen. Teilweise hatte es geradezu tumultartige Szenen auf den Bahnhöfen Friedrichstraße und Ostkreuz gegeben, die Polizei musste die Fahrgastströme regeln.

Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) kündigte an, ab Montag, 0 Uhr den Fern-, Regional- und Güterverkehr der Deutschen Bahn zu bestreiken. Laut GDL-Vizechef Claus Weselsky werde es dabei für Berlin keine Ausnahme geben. Trotz des gleichzeitig drohenden Streiks bei der S-Bahn hatte die Große Tarifkommission von Ver.di am Freitag beschlossen, den Ausstand bei der BVG in voller Härte fortzusetzen. "Es gab eine lange Diskussion unter den Kollegen darüber. Am Ende wurde entschieden, den Streik im bisherigen Umfang bis Dienstag, 24 Uhr fortzuführen. Das heißt, alle Betriebe, alle Bereiche werden bestreikt", sagte Ver.di-Streikleiter Frank Bäsler der "Welt am Sonntag".

Ungeachtet der harten Linie von Ver.di forderten die Arbeitgeber am Samstag neue Gespräche über ein Ende des Streiks. Es gebe längst ein neues Angebot, über das noch nicht verhandelt worden sei, sagte die Verhandlungsführerin des Kommunalen Arbeitgeberverbandes (KAV) Claudia Pfeiffer. Ver.di fordert für die 11 500 Beschäftigten der BVG einen Einkommenszuwachs von bis zu zwölf Prozent. Die Arbeitgeber haben ein erstes Angebot von bis zu sechs Prozent mehr Gehalt vorgelegt. Am Montagnachmittag will die Große Tarifkommission von Ver.di erneut zusammenkommen, um die weitere Strategie zu beraten. Denkbar sei, einzelne Bereiche aus dem Streik herauszunehmen. Ob dann ab Mittwoch Busse oder Bahnen wenigstens teilweise wieder fahren, blieb unklar. Vorstellbar sei mittlerweile aber auch eine Verlängerung des Streiks über Dienstag hinaus, falls es kein "kompromissfähiges Angebot seitens der Arbeitgeber" gebe. Ursprünglich war der kommende Freitag als letzter Streiktag genannt worden.

Sollte der Kommunale Arbeitgeberverband (KAV) kein neues, verhandelbares Angebot im Tarifkonflikt vorlegen, werden Busse, Straßenbahnen und U-Bahnen auch in den Osterferien in den Depots bleiben, sagte Ver.di-Verhandlungsführer Frank Bäsler am Samstag. Der Berliner Senat habe es als Eigentümer der BVG in der Hand, wie es in dem seit Jahresbeginn geführten Tarifkonflikt weitergehe. "Sobald wir ein neues, verhandlungsfähiges Angebot vorliegen haben, wird der Streik ausgesetzt", sagte Bäsler.

Chaotische Verhältnisse im Nahverkehr erwartet für Montag der Berliner Fahrgastverband IGEB. "Bahn und Gewerkschaften rasen wie Stiere aufeinander zu, und der Fahrgast steht dazwischen", sagte der stellvertretende IGEB-Landesvorsitzende Jens Wieseke. Falls auch die S-Bahn weitgehend ausfällt, werde "es sehr hoch hergehen und die Schmerzgrenze für die Fahrgäste dann deutlich überschritten sein", sagte Wieseke. Das Auto sei wegen der vermutlich verstopften Straßen kaum eine Alternative. Wieseke fordert den Senat dringend zum Handeln auf. In einer Großstadt wie Berlin, in der die Hälfte der Haushalte über kein Auto verfügt, gehöre der Nahverkehr zur Daseinsvorsorge. "Es muss ein Minimalangebot gesichert sein." Die Verkehrsverwaltung erklärte, dass keine privaten Busunternehmen zusätzlich zum BVG-Notverkehr bestellt werden können.

Wegen des BVG-Streiks gibt es Streit zwischen Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) und den Regierungsfraktionen. Sarrazin und die Verkehrspolitiker von SPD und Linke warfen einander vor, sich unzulässig in den Tarifkonflikt einzumischen. Nachdem Sarrazin seine Kritik an Ver.di wiederholte, die Gewerkschaft habe von Anfang an nicht verhandeln wollen, sondern sei auf Streik aus gewesen, schaltete sich SPD-Landeschef Michael Müller ein und rief Sarrazin zur Ordnung: "Beide Koalitionsfraktionen sind sich einig, dass der Gewerkschaft Ver.di ein schriftliches Angebot gemacht werden muss."

Die Bahn hat indes bereits Planungen für den Ausstand der Lokführer vorgelegt und einen Notfahrplan für den Fernverkehr herausgegeben. Auch Berlin ist von vielen Fahrplanänderungen betroffen. Zahlreiche Züge ins/aus dem Ausland sollen nicht mehr ab/bis Berlin verkehren, und eine große Zahl Verbindungen vor allem nach Hamburg, Köln, Düsseldorf, München und Frankfurt/Main werden ausfallen. Die Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg warnte vor großen volkswirtschaftlichen Schäden für die Region, wenn alle Busse und Bahnen bestreikt werden. Produktionsausfälle seien zu erwarten, und den Beschäftigten, die nicht zur Arbeit kommen, drohten Verdienstausfälle, hieß es. Der angekündigte Streik der GDL sei nicht nachvollziehbar.

Der CDU-Politiker Henkel warf dem Senat vor, keine Deeskalationsstrategie zu haben. Er forderte den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) auf, im BVG-Tarifstreit die Initiative zu ergreifen, sodass U-Bahnen und Busse wieder fahren würden, wenn die S-Bahnen stehen bleiben. "Wir erwarten, dass er nach vorne tritt und führt, und nicht, dass er abtaucht." Wowereit äußerte stattdessen scharfe Kritik an der Gewerkschaft Ver.di: "Mit Ver.di hatten wir klare vertragliche Vereinbarungen über die BVG getroffen. Die Gewerkschaft hat alles, was positiv war, eingestrichen - die Beschäftigungssicherung, den langfristigen Betriebsvertrag, den gemeinsamen Tarifvertrag. Nun will man das alles nicht mehr wahrhaben und versucht, die anderen Punkte auszuhebeln. So kann es nicht gehen."

Auch am Samstag waren die S-Bahnen stärker besetzt als gewöhnlich. Es habe keine Störungen gegeben, sagte ein Sprecher. Unterdessen forderte der Landeselternausschuss den Senat auf, während des Streiks die Schulpflicht aufzuheben. Der Unterricht sollte während des "streikbedingten Ausnahmezustandes" auf freiwilliger Basis organisiert werden, so der Vorsitzende des Ausschusses, André Schindler.

Autor/Agentur: Thomas Fülling und Dirk Westphal
Quelle: Die Welt
Medium: Tageszeitung
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