Pressekonferenz vom 4. September 1997

Verbundtarif für Berlin und Brandenburg:
Zu Kompliziert und viel zu teuer

Zusammenfassung

Tarifverbund in Berlin und Brandenburg

Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) beabsichtigt zum 1. März 1998 die Einführung eines einheitlichen Tarifsystems in den Ländern Berlin und Brandenburg. Damit soll es möglich werden, mit einem Fahrschein alle Verkehrsmittel und ­unternehmen in den beiden Ländern zu benutzen. Was zunächst positiv und erstrebenswert klingt, zeigt sich jetzt nach Bekanntwerden des vorgesehenen Tarifkonzeptes als Kuckucksei:

Vorgesehen ist die Einführung

1. Das Tarifsystem

Während andere Verkehrsverbünde längst erkannt haben, daß komplizierte Tarifsysteme Fahrgäste abschrecken und teilweise mit sehr einfachen Tarifregelungen auf Erfolgskurs schwimmen (wie z..B. der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr), bahnt sich in Berlin und Brandenburg die Einführung eines hoch komplizierten Tarifsystems an. Es ist primär unter betrieblichen Aspekten der Verkehrsunternehmen und unter Vernachlässigung der Belange der Fahrgäste entwickelt worden.

Grundlage des Tarifsystems ist ein Netz von ca. 1.400 (!) sechseckigen Waben, deren Normgröße 5 km im Durchmesser haben soll. Andererseits werden aber Städte oder sonstige Gebietskörperschaften und zum Teil deren Umland zu größeren Tarifgebieten zusammengefaßt. Hinzu kommt, daß die Fahrpreisermittlung für Bartarif und Zeitkartentarif nach unterschiedlichen räumlichen Bezugsebenen erfolgen soll:

1.1 Bartarife

Außerhalb der Städte soll der Fahrpreis bei Entfernungen bis 25 km nach dem sog. Lokaltarif und bei Entfernungen ab 25 km nach dem sog. Regionaltarif ermittelt werden, für die jeweils besondere Bedingungen gelten. In Berlin, Potsdam und den sonstigen kreisfreien Städte erfolgt die Preisermittlung nach dem bereits aus Berlin bekannten Prinzip der konzentrischen ABC-Ringe, für die aber in den einzelnen Städten unterschiedliche Preise vorgesehen sind. Bei Stadt- und Umlandfahrten, die über den ABC-Bereich hinausführen, soll jedoch auch innerhalb der ABC-Gebiete der Lokal- bzw. Regionaltarif gelten! Da anders als bei anderen Verkehrsverbünden üblich, keine Kappungsgrenze nach oben vorgesehen ist, ergeben sich somit allen für den Einzelfahrschein/Normaltarif über 30 Tarifstufen.

Insbesondere aufgrund des komplizierten Bartarifs kann den Fahrgästen der kommunalen Verkehrsunternehmen nur ein Teil des Fahrkartensortiments angeboten werden, da (mit Ausnahme der DB AG und der S-Bahn GmbH) kein Verkehrsunternehmen über entsprechend ausgestattete Automaten verfügt. Das bedeutet z.B., daß selbst auf den Berliner U-Bahnhöfen Fahrkarten nur für einen Bereich gelöst werden können, der nur unwesentlich über den bisherigen Geltungsbereich des Tarifgebietes C hinausgeht. Dies gilt analog auch für die Verkehrsunternehmen in den Städten des Landes Brandenburg. Vor diesem Hintergrund ist völlig ungelöst, welche (Sonder-)Regelungen für Fahrgäste mit entsprechenden Fahrtzielen greifen und wie ein am Automat stehender Fahrgast dies nachvollziehen kann und soll.

Das dem Bartarif zugrundeliegende Tarifsystem ist völlig undurchschaubar und an Kompliziertheit wohl nicht mehr zu überbieten. Es ist völlig undenkbar, mit einem solchen Tarifschema neue Fahrgäste für den öffentlichen Verkehr zu gewinnen.

1. 2 Zeitkartentarife

Etwas leichter nachvollziehbar ist der Zeitkartentarif: Er basiert in den Stadtgebieten auf dem bekannten Prinzip der ABC-Ringe und bei Fahrten über diese Grenze hinaus gelten jeweils die Landkreise bzw. kreisfreien Städte einheitlich als räumliche Bezugsebene. Lediglich im Kurzstreckenverkehr innerhalb der Landkreise greift das Wabenschema. Unakzeptabel ist jedoch, daß die Geltungsbereiche der Berliner Tarifgebiete B und C deutlich verkleinert werden sollen. Dies führt zu teilweise extremen Preissprüngen.

Dieses lediglich dem Zeitkartentarif zugrundeliegende Tarifsystem wäre dennoch grundsätzlich eine durchaus geeignete Grundlage für das gesamte Tarifsystem des VBB. Es sieht lediglich 5 Preisstufen vor, die jeweils für die Tarifbereiche Landkreise, Städte und Berlin definiert sind. Warum dieses Tarifschema für Zeitkarten nicht auch für den Bartarif zugrundegelegt wird, bleibt für den Berliner Fahrgastverband nicht nachvollziehbar.

In der vorliegenden Form ist das Tarifkonzept jedoch weder fahrgastfreundlich noch nachvollziehbar und verstößt damit im übrigen gegen die gesetzlichen Vorgaben (§ 2 ÖPNV-Gesetz Berlin).
Der Berliner Fahrgastverband fordert ein einfaches und für den Fahrgast nachvollziehbares Tarifsystem, wie dies auch in anderen Verkehrsverbünden üblich ist.

2. Sonstige Tarifregelungen

Das Tarifsystem sieht eine Vielzahl von tariflichen Regularien vor, von denen nur die problematischsten hier thematisiert werden sollen:

2.1 Ermäßigungstarife

Bisher wird bei der DB AG für Kinder ein Rabatt von 50 % vom Normaltarif gewährt, bei den sonstigen Verkehrsunternehmen, wie z.B. auch der BVG, liegen sie zwischen 33 und 40 % Rabatt. Nunmehr ist beabsichtigt, für Kinder einheitlich einen Rabatt von nur noch 25 % vom Normaltarif einzuräumen. Eine derartige Regelung wäre im Vergleich mit anderen Verkehrsverbünden einzigartig (siehe Anlage). Nachdem gerade die Tarife für Kinder in den letzten Jahren überproportional gestiegen sind, sollen sie nunmehr erneut um 30 % bis 40% steigen. Für sonstige Fahrten von und nach Brandenburg würden sich im Kontext mit sonstigen tariflichen Änderungen z.T. Preisverdoppelungen ergeben.

Die vorgesehene Regelung mit nur noch 25 % Rabatt für Kinder ist für den Berliner Fahrgastverband völlig unakzeptabel und sozialpolitisch fatal. Die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln würde für Familien zum Luxus werden.

2.2 Senioren-, Arbeitslosen und Semestertickets

Die vorgesehene Rabattierung für Seniorenkarten um ca. 15 % zum Normaltarif ist insbesondere vor dem Hintergrund der für das Berliner Tarifgebiet sehr restriktiven Vergabe nur an Sozialrentner völlig unzureichend. Für Berliner Senioren bahnt sich ein Preissprung von bisher 77 DM auf 95 DM an. Regelungen für sonstige Sozialtarife (z.B. Arbeitslose oder Semestertickets) sieht das VBB-Tarifkonzept nicht vor.

2.3 BahnCard

Völlig offen ist noch, ob die BahnCard auf die neuen Verbundtarife überhaupt anerkannt wird. Wenn überhaupt, dann möchte die DB AG zukünftig nur einen Rabatt von max. 25% vom Normaltarif statt bisher 50% einräumen - und dies auch nur bei Strecken von mindestens 25km. Diese Regelung würde praktisch für alle BahnCard-Besitzer zu gravierenden Preissprüngen führen. Dies würde z.B. dazu führen, daß auch Fahrgäste der DB AG mit BahnCard, die mehrere Verkehrsunternehmen nutzen (die also die eigentlichen Nutznießer des Verbundtarifes sein sollten), zukünftig höhere Fahrpreise als bisher zahlen müssen.

Für Benutzer von Kinder-Bahn-Cards sollen sich die entsprechenden Tarife (bisher 75 % Rabatt gegenüber Normaltarif) im übrigen offenbar verdreifachen, weil nur noch ein einheitlicher Ermäßigungstarif mit 25 % Rabatt vorgesehen ist.

Die beabsichtigte Entwertung der BahnCard mit den daraus resultierenden Nachteilen für die Oft-Bahnfahrer stellt die Zielsetzung des Verbundtarifes auf den Kopf.
Analog zu den Regelungen im Rhein-Main-Verkehrsverbund sollte für BahnCard-Besitzer eine Ermäßigung von 40 % zum Normaltarif eingeführt werden.

Auch sonstige tarifliche Regelungen, wie z.B. Fahrradmitnahme, Mitnahmeregelungen von weiteren Personen während der Schwachverkehrszeiten oder Regelungen für den Kauf von Anschlußfahrscheinen für Zeitkartenbesitzer, die über den Geltungsbereich ihrer Zeitkarte hinausfahren, sind teilweise noch völlig offen bzw. die Lösungen, die im Gespräch sind, führen zu weiteren Verwirrungen und/oder zusätzlichen Verteuerungen gegenüber den bisherigen Fahrpreisen.

3. Die "regulären" Preissteigerungen

Zusätzlich zu den in der Einführung des den Verbundtarifs begründeten, sollen dann auch noch die "regulären" Preissteigerungen von den Fahrgästen bezahlt werden. Bei der BVG beträgt dieser Satz im Durchschnitt ca. 7 %, bei der DB AG ca. 5 % und bei den regionalen Busunternehmen ca. 3 %. Diese alljährlichen Preissteigerungen sind natürlich vor dem Hintergrund einer allgemeinen Preissteigerungsrate von unter 2 % und von sinkenden Netto-Haushaltseinkommen zu sehen.

Im Ergebnis würde die Einführung des VBB-Tarifkonzeptes im Zusammenwirken mit der inzwischen üblichen alljährlichen Tariferhöhung zu teilweise drastischen Preissteigerungen führen. Die Höhe der Tarife insbesondere in Berlin hat inzwischen das Preisniveau anderer Großstädte längst überschritten (siehe Anlage), obwohl die durchschnittlichen Einkommen hier (und erst recht im Land Brandenburg) deutlich unter denen in anderen Ballungsräumen liegen. Die Folgen kann die BVG an ihren Fahrgastzahlen ablesen: Sie ist inzwischen praktisch das einzige Verkehrsunternehmen in der Bundesrepublik mit Fahrgastverlusten. Die Abwanderung - überwiegend auf das Auto - betrug zuletzt jedes Jahr 5 % !

Der Berliner Fahrgastverband verurteilt diese Preistreiberei. Sie ist verkehrs-, umwelt- und sozialpolitisch unverantwortlich. Nicht das Abkassieren, sondern das Gewinnen von Fahrgästen muß im Vordergrund einer verantwortungsbewußten Tarifpolitik stehen.

4. Fazit

Das vom VBB zusammen mit den beteiligten Verkehrsunternehmen entwickelte Tarifkonzept bringt für die überwiegende Mehrheit der Benutzer der öffentlicher Verkehrsmittel in Berlin und Brandenburg mehr Nachteile als Vorteile. Wenn es den Verantwortlichen beim VBB und den beteiligten Verkehrsunternehmen nicht gelingt, ein für die Fahrgäste praktikables Tarifkonzept zu entwickeln, stellt sich die Frage, ob die Einführung eines so riesigen Verbundgebietes sinnvoll ist.

Mit den bisher vorgesehenen tariflichen Regelungen lehnt der Berliner Fahrgastverband den ganz Brandenburg und Berlin umfassenden Tarifverbund ab, weil er für die ganz überwiegende Mehrheit der Fahrgäste mehr Nachteile als Vorteile bringt.

Anlagen:

Preisvergleich mit Tarifen anderer Städte (Berechnung jeweils für das Stadtgebiet)

Berlin -neu- Dresden Düsseldorf Frankfurt/M. Wien Paris
Einzelfahrt, evtl. Mehrfahrtenkarte 3,90 2,42 2,30 3,30 2,90 2,80
Ermäßigungstarif 2,90 1,60 1,35 1,90 2,30/2,20* 2,00
Monatskarte 105,00 59,00 79,00 99,00 72,00 80,00
Außerhalb der Hauptverkehrszeit kostet in Frankfurt / Main die Einzelfahrt 2,80 DM, zum Ermäßigungstarif 1,60 DM

Berliner Tariferhöhungen seit 1994 für das jetzige Gebiet A-B-C
(entspricht Stadtgebiet Berlin und Umland)

Fahraus­weis­art Tarif- 01.01.94 01.01.95 01.01.96 01.10.96 01.03.97 01.03.98 Erhö­hun­gen
gebiet 1994 - 1998 1997 - 1998
Einzelfahrt * W 3,00 3,12 3,25 3,25 3,90 4,20 40 % 7 %
O 2,60 61 %
Ermäßigungs­tarif * W 1,95 2,12 2,25 2,25 2,60 3,20 64 % 23 %
O 1,70 88 %
Monats­karte W 82,00 89,00 93,00 93,00 108,00 112,00 36 % 3 %
O 70,00 80,00 89,00 60 %
Schüler­monatskarte W 38,00 41,00 47,00 50,00 60,00 ** 84,00 ** 120 % 40 %
O 32,00 39,00 45,00 162 %
* bis Oktober 1996 auf Basis der Sammelkarte
** für das Stadtgebiet Berlin bisher: 55,- DM
*** für das Stadtgebiet Berlin neu: 63,- DM

Preis­vergleich für verbundrelevante Verbindungen
Strecke von ... nach ... Normal­tarif mit BahnCard Ermäßigungs­tarif Monats­karte
alt neu alt neu alt neu alt neu
Berlin - Woltersdorf 3,60 4,20 3,60 4,20 2,40 3,20 93,00 112,00
Berlin - Fürstenwalde 3,90 8,50 3,90 6,40 2,60 6,40 108,00 165,00
Berlin - Belzig 10,70 15,10 7,30 11,30 6,00 11,30 233,00 * 195,00
Berlin - Cottbus 23,90 23,90 13,90 17,90 12,60 17,90 388,00 * 195,00
Potsdam - Beelitz 3,60 6,40 3,60 4,80 2,40 4,80 93,00 120,00
Potsdam - Eisenhüttenstadt 17,10 19,50 10,50 14,60 9,20 14,60 357,00 * 195,00
* Preis mit Brandenburg-Berlin-Ticket

Matthias Horth, Stellvertretender Vorsitzender

© Berliner Fahrgastverband IGEB e.V.