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Kommentar zum Berliner Nahverkehr

22.01.2019

Krise mit Ansage
Berlin - U-Bahnhof Eberswalder Straße, Dienstag gegen 8.40 Uhr. Immer mehr Pendler strömen auf den Bahnsteig, doch die Bahn lässt auf sich warten. Erst zeigt die Hinweistafel eine Verspätung an, dann verschwindet der angekündigte Zug vom Display.

Erst nach weiteren Minuten rollt endlich eine U-Bahn ein, nach dem Ausfall zum Bersten gefüllt. Nebenan, auf dem Gleis nach Pankow, hält ein Zug, der statt der vorgesehenen acht nur sechs Wagen hat. Bei der Rückfahrt wird auch er überfüllt sein. Am Alexanderplatz dürfte die Fahrt dann unerträglich werden. Dort warten Fahrgäste in vier, fünf Reihen.

Die Szenen aus der U2 sind Schnappschüsse, die auch auf anderen Linien der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) möglich wären. Vielerorts kommt der größte deutsche Nahverkehrsbetrieb an seine Grenzen. Wer sich umwelt- und klimafreundlich in Berlin bewegen will, fühlt sich bestraft. Neue Daten zeigen, dass die Lage so schlecht ist wie noch nie. Die Zahl der ausgefallenen Kilometer ist auf ein Rekordhoch gestiegen.

Sozialdemokraten kritisieren die BVG

Es ist ein Offenbarungseid auf allen Ebenen: Senat, Verwaltung, BVG-Chefetage. Viel zu spät haben sich die Verantwortlichen eingestanden, dass das wichtigste Landesunternehmen in eine Krise geraten ist, eine Krise mit Ansage. Jahrelang hatten sie Warnungen des Fahrgastverbands IGEB und der Gewerkschaft Verdi ignoriert – und es versäumt, sich um eine nachhaltige Entwicklung der BVG zu kümmern. Ihre Nachfolger flüchten sich in Aktionismus und Hau-drauf-Rhetorik.

Am Wochenende holzten die Sozialdemokraten gegen die BVG und Verkehrssenatorin Regine Günther, die von den Grünen nominiert worden ist. „Die Leute sind pappsatt“, schimpfte der Regierende Bürgermeister Michael Müller. Theatralisch zitiert die SPD-Fraktion die BVG-Chefin Sigrid Nikutta zum Rapport. Ramona Pop, Vorsitzende des BVG-Aufsichtsrats, schnappt zurück: „Wer hat denn die BVG 20 Jahre lang investiv und personell in den Keller gefahren?“ Zu Recht argwöhnt die Grünen-Senatorin, dass sich die SPD im Zeichen sinkender Wählergunst mit einem Koalitionsstreit profilieren möchte.

Es ist eine unappetitliche Diskussion, die keinem hilft – schon gar nicht den Menschen, die sich statt im Dienstwagen per U-Bahn bewegen. Sie hilft auch nicht den BVG-Beschäftigten, von denen die meisten ordentliche Arbeit leisten. Anstelle von Verbalattacken, die den Ruf der BVG lädieren, wären Demut und Selbstkritik sinnvoll, auf allen Seiten. Die SPD hat als Teil der rot-roten Koalition 2002 bis 2011 die Sparpolitik vertreten, die zu dem Investitionsstau bei der BVG beigetragen hat. Anstatt zu wachsen, wurde die U-Bahn-Flotte kleiner. Als Michael Müller 2011 bis 2014 Stadtentwicklungssenator war, wurde es nicht viel besser.

BVG hat einen Anteil an der Misere

Heute gehört die BVG zum Einflussbereich der Grünen. Aber auch die Partei, die Berlin zur Verkehrswende führen will, verlor sie bald aus dem Blick. Von Anfang an war der Verkehr kein Herzensthema von Senatorin Günther. Als Staatssekretär Kirchner wegen Krankheit ausfiel, kamen wichtige Projekte wie die Beschleunigung von Bus und Bahn fast zum Stillstand. Die tägliche Arbeit leidet ebenfalls, denn die Personalprobleme in Günthers Behörde betreffen auch das Referat Nahverkehr. Der Leiter hat die Senatsverwaltung verlassen, eine anerkannte Fachfrau geht in den Ruhestand. Viel bleibt an einer anderen Expertin hängen, die aber aus familiären Gründen Teilzeit arbeiten muss.

Die BVG hat ebenfalls einen Anteil an der Misere. Schon seit längerem gibt es intern Unmut darüber, dass erfahrene Fachleute ihrer Tätigkeit entbunden worden sind. Manche wurden Berichten zufolge durch Bekannte des BVG-Managements ersetzt. Von „Misswirtschaft“ und hoher Fluktuation ist die Rede. Das drückt auf die Stimmung und die Leistung. Der Krankenstand ist hoch.

Wann wird es für die Fahrgäste besser? Zwar bekommt die BVG im festen Rhythmus neue U-Bahnen, doch sie muss auch ältere Züge wegen Rissen ausmustern. Im Frühjahr sollen bis zu 1500 weitere Wagen bestellt werden, diese Lieferung könnte aber frühestens 2021 beginnen. Es sieht so aus, als ob die BVG-Nutzer noch einige Geduld aufbringen müssen. Zu viel wurde zu lange versäumt.

Autor/Agentur: Peter Neumann
Quelle: Berliner Zeitung
Medium: Tageszeitung
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