Wobei das natürlich nicht ganz stimmt, denn einiges ist schon geschehen. Aber eben viel zu wenig, wie Sørensen und ihr Mitstreiter Denis Petri feststellten. So seien von den Radfahrstreifen, die laut Senat bis 2030 an Hauptverkehrsstraßen entstehen sollen, gerade mal 39,5 Kilometer fertig gestellt worden. Das entspricht einem Anteil von 1,4 Prozent. Ein anderes Beispiel: Von den knapp 1500 Kilometern Nebenstraße, die während dieses Zeitraums ebenfalls radfahrerfreundlich umgestaltet werden sollen, wurden bisher nur 5,5 Kilometer hergerichtet. Das sind sogar nur knapp 0,4 Prozent. Bei den Radschnellverbindungen sehe die Bilanz noch ungünstiger aus: null Kilometer. Immerhin: „Die Vorbereitungen sind fast im Plan“, versuchte Sørensen zu loben.
Mit dem jetzigen Tempo bräuchte Berlin 200 Jahre, um alle Vorgabe zu erfüllen
Zwar sei das Mobilitätsgesetz in der Tat etwas Wertvolles und Besonderes, wie Denis Petri festhielt: „Es ist der großen Aufgabe, in Berlin eine Mobilitätswende herbeizuführen, angemessen.“ Es ist ein Gesetz, um das Berlin beneidet wird, sagen Fachleute. Inzwischen sind weitere Teile dazu gekommen – unter anderem zum Fuß- und Wirtschaftsverkehr. „Das Gesetz ist ein unmissverständlicher Auftrag. Doch es wird missachtet, die Herausforderung einfach nicht ernst genommen“, so Petri. Was sich auch daran zeige, dass es bei Bemühungen für mehr Verkehrssicherheit und weniger schwere Unfälle seit 2005 kaum Fortschritte gebe.
Und diese Herausforderung ist groß: „Wenn 400 Meter Radweg fertiggestellt werden, ist das schön“, sagte Ragnhild Sørensen. „Aber hier geht es darum, eine ganze Stadt umzubauen. Das setzt einen Perspektivenwechsel voraus: weg von der Planung für Kfz-Fahrende und -Besitzende hin zu einer Förderung klimafreundlicher Mobilität. Dies erfordert vor allem klare, transparente Ziele.“ Auch wenn es lobenswert sei, dass der Senat rund 70 Planerinnen und Planer eingestellt habe, auch wenn zumindest das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg zeige, wie man beherzt an die Arbeit gehen könne: Bei der Umsetzung des Gesetzes hapere es, bekräftigt Changing Cities.
Im bisherigen Tempo würde der Berliner Senat bis zu 200 Jahre benötigen, um die Ziele des Gesetzes umzusetzen, so die Kritik. Die Verantwortlichen führen die Verwaltung nicht so, wie es für die Bedeutung der Aufgabe nötig wäre. Die Verantwortlichen – das seien in den Bezirken sechs Politiker von den Grünen, vier von der CDU und zwei von der SPD, im Senat Senatorin Regine Günther und Staatssekretär Ingmar Streese, beide von den Grünen.
Das kritisiert auch der Fahrgastverband IGEB, der die versprochenen Busspuren vermisst und häufig argwöhnt, dass den Planern im Senat Radfahrer enger am Herzen liegen als Nutzer von Bahnen und Bussen. „Das Mobilitätsgesetz ist erst einmal ein Versprechen. Im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs wurde es bisher nicht ansatzweise eingelöst“, twitterte Sprecher Jens Wieseke.
Jahrelanger Sparkurs in der Verwaltung wirkt heute immer noch nach
Wobei die Aktivisten gewarnt waren: „Das Gesetz weckt sehr hohe Erwartungshaltungen bezüglich einer raschen Verbesserung der Verhältnisse, die angesichts der realen Realisierungshorizonte solcher Maßnahmen kaum erfüllbar sind“, sagte Gerd-Axel Ahrens, Seniorprofessor an der Fakultät Verkehrswissenschaften der Technischen Universität Dresden, vor drei Jahren der Berliner Zeitung. Es formuliere „anspruchsvolle Ziele und setzt hohe Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Verwaltung, die derzeit angesichts der personellen Engpässe, Strukturen und Abläufe nicht gut gerüstet ist, um aus dem Stand erfolgreich zu sein“, schätzte Christiane Heiß, Stadträtin in Tempelhof-Schöneberg, damals ein. Die Grünen-Politikerin verwies auf mangelnde Digitalisierung, umständliche Verfahren, weitreichende Abstimmungsprozesse.
Ein rigider, mehr als zehn Jahre dauernder Sparkurs habe die Verwaltung „bis an die Schwelle zur Funktionsunfähigkeit reduziert“, sagte Friedemann Kunst, der 2006 bis 2013 die Abteilung Verkehr im Senat geleitet hat.
Auch wenn die Behörden jetzt schon überfordert wirken – am Montag setzte Changing Cities noch einige Arbeitsaufträge drauf. So soll eine Task Force gegründet werden, die sich um zentrale Arbeitsthemen kümmert. Oder: Jahr für Jahr sollen zwei „Kiezblocks“ entstehen. Dabei werden Wohnviertel für den Durchgangsverkehr unpassierbar gemacht. Vor allem aber: Die Verwaltung müsse neu organisiert, Führungsleute besser ausgesucht, Verfechter der Mobilitätswende intern gestärkt werden. Geht es um Mängel bei der Verkehrssicherheit, sollten Verbände ein Klagerecht bekommen.
„Diejenigen, die das Gesetz beschlossen haben, sehen es offenbar eher als Propagandainstrument“, sagte Denis Petri. In der Tat zog die Senatsverkehrsverwaltung am Montag, wenig überraschend, ein positives Fazit. Zitat: „Lebendige Kieze und ein sicheres, komfortables und natürlich auch klimafreundliches Vorankommen sind für alle Menschen wichtig. Sie sind zentrale Aspekte einer stadtverträglichen Mobilität. Mit Deutschlands erstem Mobilitätsgesetz hat Berlin dafür den Grundstein gelegt. Seitdem haben wir bereits vieles erreicht. Dank zusätzlicher Bus- und Bahnangebote, sauberer Elektrobusse, geschützter Radstreifen und verkehrsberuhigter Kieze können immer mehr Menschen in Berlin umweltfreundlich unterwegs sein.“