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Modern, aber nicht lang genug

29.07.2021

Neue Straßenbahnen versprechen mehr Komfort, aber nicht mehr Kapazität
Berlins Straßenbahnchef Rico Gast ist am Donnerstag hocherfreut im Betriebshof Weißensee. Anlass ist die Vorstellung des Mock-ups der neuen Tramgeneration der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Die ersten zwei Wagenteile wurden in Originalgröße in den Babelsberger Filmateliers als Holzmodell realisiert. Endlich könne man ein Stück der neuen Straßenbahn anfassen, erklärt er. »Ein großer Sprung für die Fahrgäste« sei die Weiterentwicklung der Flexity-Baureihe, betont Gast.

Das ist nicht mal gelogen. Die Einstiege der neuen Fahrzeuge liegen tiefer als bisher, die störende Schräge im Fußboden an den Sitzen ist einer Ebene gewichen. »Wir haben auch ordentlich an den Fahrwerken gearbeitet«, sagt ein Vertreter des Schienenfahrzeugherstellers Alstom, der mit der Übernahme des Konkurrenten Bombardier nun auch für diese Straßenbahnen verantwortlich ist. Das Ergebnis der Arbeit: Die Gänge in den Bereichen sind wesentlich breiter geworden.

Stolz zeigt Karsten Grzelak, Leiter der Schienenfahrzeugneubeschaffung bei der BVG, auf einen riesigen Bildschirm, der am Ende des Modells hängt. Zu sehen ist darauf ein Ausschnitt des Straßenbahn-Linienplans. »Das wird ein Touchscreen, auf dem die Kundinnen und Kunden auf den Abschnitt des Netzplans zoomen können, der sie interessiert«, kündigt er an. Man überlege auch, eine Verbindungsauskunft zu integrieren. Nun werde geprüft, ob sich nicht noch eine Fläche an der Fahrzeugwand findet, damit der Bildschirm nicht so sehr den Blick durch das Fahrzeug verstellt. »Genau für so etwas werden Mock-ups angefertigt«, sagt Grzelak.

Im Modell wurden auch nur sogenannte Familiensitze montiert, breite Polsterflächen, auf denen beispielsweise bequem eine Mutter mit Kind nebeneinander Platz haben. Doch die Tendenz geht dahin, wie bisher auf der einen Seite zwei Einzelsitze zu montieren. Damit würde der Gang nicht mehr stattliche 90 Zentimeter messen, wäre aber immer noch breiter als bisher.

Eine Neuheit ist auch die Fahrzeuglänge von 51 Metern, zehn Meter mehr als bei den bisher längsten Wagen im Berliner Straßenbahnnetz. Sie sollen die derzeit auf der M4 im Einsatz befindlichen Zwei-Wagen-Züge des Typs GT6 ablösen, die 54 Meter lang sind. Ende 2022 soll der erste 51-Meter-Wagen der neuen Flexity-Generation in der Hauptstadt eintreffen. Im Laufe der nächsten Jahre sollen alle 150 dreiteiligen GT6-Wagen aufs Abstellgleis fahren. Die ersten Fahrzeuge wurden 1994 ausgeliefert, 2003 wurde der letzte in Betrieb genommen. Die geplante Einsatzdauer von bis zu 30 Jahren ist bald erreicht.

Der Berliner Fahrgastverband IGEB kritisiert angesichts der Vorstellung des Modells erneut, dass die BVG bei der Fahrzeugbestellung »zu kurz gedacht« habe. Denn die Haltestellen an der M4 sind für bis zu 60 Meter lange Fahrzeuge ausgelegt. »Aufgrund der prognostizierten Fahrgastzunahme, insbesondere im wachsenden Bezirk Pankow, wäre es konsequent gewesen, künftig entsprechend lange Fahrzeuge zu bestellen«, kritisieren die Fahrgastvertreter. »60-Meter-Fahrzeuge sind erheblich größer und erheblich schwerer«, erklärt Straßenbahnchef Rico Gast. Er nennt diverse Infrastrukturprobleme - die Fahrstromversorgung oder Querungszeiten von Kreuzungen - als einen Grund für die Entscheidung. Auch sei die Kapazität von rechnerisch 313 Fahrgästen in den neuen Wagen höher als die 300, die in zwei gekuppelte GT6 hineinpassen. Eine ernsthafte Reserve kann man das nicht nennen. »Es gibt aus heutiger Sicht keine Möglichkeit, dieses Fahrzeug zu verlängern«, sagt Gast. Sollte die Kapazität nicht reichen, müsste eine neue Generation beschafft werden.

Laut einer internen, »nd« vorliegenden Aufstellung sollen bis 2027 insgesamt 35 der XXL-Wagen ausgeliefert werden. Von einer nur 31 Meter langen Version sollen sogar 82 Stück bis 2030 nach Berlin kommen. Der Fahrgastverband kritisiert, dass diese nicht kuppelbar sein werden. Technisch ist eine Nachrüstung unrealistisch, weil die Kupplung ein erheblicher Eingriff in die Fahrzeugstatik ist. Hier wird Rico Gast sehr vage: »Wir werden eine Lösung finden, dass diese Fahrzeuge so flexibel einsetzbar sein werden«, verspricht er.

Autor/Agentur: Nicolas Šustr
Quelle: Neues Deutschland
Medium: Tageszeitung
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